Was ich vom Kirchentag gelernt habe.

Kirchentagsbesucher erkennt man. Nicht nur an den farbigen Kirchentagsschals, die Zehntausende von Besuchern durch die Stadt tragen. Nicht nur an “free Hugs” Schildern oder den Regenbogen-Perlenketten als Statement für Frieden. Man erkennt sie an funktionalen Halbschuhen, ab und an Sandalen mit Socken, praktischen wanderhosen mit Beinen zum abzippen und Rucksäcken gefüllt mit vesperpaketen und Sonnencreme. Man erkennt sie am Singen in Zügen, manchmal schräg und nicht immer zur Freude der Mitreisenden.
Man erkennt sie auch und vor allem an freundlichen Gesichtern. An einer Offenheit gegenüber allen, denen sie begegnen, an guter Laune, und daran, dass sie sich nicht beschweren, wenn Hallen überfüllt sind oder die Sonne zu heiß ist. Man erkennt sie an Neugier, Wissensdurst und dem Wunsch etwas Gutes zu tun, etwas zu verändern in der Welt.

Letzte Woche war ich beim evangelischen Kirchentag in Stuttgart. Nach Bremen, Dresden und Hamburg war das jetzt schon mein vierter und mir gefällt es jedes Mal besser. Ich glaube, dass fast alle Menschen, die nicht schon mal dabei waren nicht wissen, wie der Kirchentag ist und dass es kein riesiger Gottesdienst mit ständigen Vaterunsers und Bibellesungen ist.
Das kann es sein, für Leute die das mögen, aber das Angebot ist so groß und vielfältig, dass es für meiner Meinung nach jeden (egal ob gläubig oder nicht) ein passendes, 4-Tage-füllendes Programm gibt, das inspiriert und bildet und Spaß macht. Für mich war es dieses Jahr vor allem Politik, Vorträge von Kofi Annan, Steinmeier, Andrea Nahles oder Diskussionsrunden über die Flüchtlingsfrage. Außerdem Konzerte, zB von Andreas Bourani oder Samuel Harfst und ein paar Zukunfts- und Beziehungssachen, zum Beispiel “bin ich meines Glückes eigener Schmied?”. Oder eine Gesprächsrunde zu “Partnern, die immer Recht haben wollen”. Ich hab viel gelernt in den letzten Tagen, nicht nur inhaltlich, sondern auch vieles über mich selber und was mir eigentlich im Leben wichtig ist.

Hier ein paar Auszüge aus meinen Notizen und meinem Kopf, über die ich mal nachdenken will:

- Krisen sind komplex und Lösungen sind nicht einfach. Trotzdem ist nichts tun keine Option. Wir tragen Verantwortung für unser Handeln, aber auch, für unser nicht-Handeln.
Starke Schultern müssen mehr tragen, als schwache.

- wenn man eine staatliche Ordnung zerstört, sollte man wissen, was danach kommt.

- Dass Politik die Bürger glücklich machen soll, ist ein Irrtum. Die Politik soll einen Raum schaffen, in dem die Bürger nach Glück streben können.

- Knappheit verursacht Sinn. Würden wir ewig leben, würden wir alles immer nur aufschieben. Durch die Knappheit von Lebenszeit und anderem werden wir dazu gebracht und für und gegen Sachen zu entscheiden, Prioritäten zu setzen und uns persönlich zu fragen, was der Sinn von Dingen ist.

- Erwachsene lassen sich auch unterkriegen.

- ich muss nicht innerhalb der nächsten 10 Jahre eine Familie gegründet UND meine Karriere aufgebaut haben. Ich kann auch in 10 Jahren noch anfangen Karriere zu machen

- ich lebe ein egoistisches, wohlständiges Leben. Ich will anderen Gutes tun.

- ich will in eine Partei eintreten.

Die letzten beiden Punkte haben es schon auf meine to-do-Liste geschafft, was die Umsetzungewahrscheinlichkeit in den nächsten 2 Monaten im Normalfall von 20 auf 80% erhöht.

Ich hoffe ich verliere diese Inspiration nicht so schnell. In 2 Jahren ist der Kirchentag ein Heimspiel für mich. Und auch wenn ich 10 Stunden hinfahren müsste, würde ich das machen. Das hier ist also eine warme Empfehlung an alle und jeden: Geht mal zum Kirchentag, ihr werdet es nicht bereuen.